Es ist unsere letzte Fahrt im Kosovo und bald erreichen wir die mazedonische Grenze. Wir sind zu fünft im Wagen. Drei Freunde auf dem Weg nach Skopje. Und wir. Aufgesammelt an einem verregneten Bergpass, irgendwo im nirgendwo. Flo sitzt vorn. Bei seiner Größe bekommt er meist den besten Platz. Doch ich beklage mich nicht. Die Rückbank gleicht zwar einem einzigen Wirrwarr aus verrenkten Beinen, verirrten Schultern und rutschendem Gepäck, doch dafür gibt es hier Schokolade. Und Kekse. Denn meine beiden Sitznachbarn kümmern sich wirklich rührend um mein Wohlergehen.

Prizren

Trampen im Kosovo war einfach.

Fast schon zu einfach. Gewartet haben wir nie länger als fünf Minuten. Überhaupt hatten wir eine wunderbare Zeit in diesem kleinen Land.

Die Eindrücke der letzten Tage rauschen an mir vorbei, während ich aus dem Fenster schaue: Ich denke an den schauerlich schönen nicht-von-dieser-Welt-kommenden Klang der Muezzine von 30 Moscheen, die alle ein wenig versetzt 6 Uhr morgens zum Gebet rufen. An den Duft unserer selbst gerösteten Maronen, die wir kiloweise zu allen Mahlzeiten essen. Oder an den langsam einsetzende Zuckerschock, nachdem wir uns an zu viel in Sirup getränktem Kuchen vergehen. Und an das Strahlen in den Augen so vieler, sobald sie uns auf der Straße erblicken. Tatsächlich kommt mir der Kosovo im Nachhinein vor wie eine Aneinanderreihung von lieben Begegnungen. Denn es waren vor allem die Menschen, die uns hier beeindruckt haben.

Doch spulen wir die Geschichte nochmal sieben Tage zurück.

Es ist der 15. November. Kurz vor Sonnenuntergang werden wir in einem kleinen montenegrinischen Dorf mit in den Kosovo genommen. In ein Land, das sich seit 2008 nicht mehr als Teilregion Serbiens betrachtet, doch dessen Unabhängigkeit nur von 110 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen anerkannt wird. Und welches wir – wenn überhaupt mit irgendetwas – eigentlich nur mit Krieg, Armut und Flüchtlingen verbinden. Doch schon während dieses ersten Abends, entsteht in unseren Köpfen ein neues und bunteres Bild.

Unser erster Abend im Kosovo

Wir werden eingeladen. Erst auf einen Kaffee. Und dann darauf, bei unserem Fahrer und seiner Familie die Nacht zu verbringen. Also schmeißen wir kurzerhand unsere Routenpläne um und finden uns bald in einem gemütlichen Wohnzimmer wieder, das sich minütlich mit neuen Familienmitgliedern füllt, während wir Pizza essen, Fotoalben bestaunen und Flo Origami Unterricht gibt.

Am nächsten Morgen werden wir in Prizren abgesetzt, der drittgrößten Stadt des Landes, unweit der albanischen und mazedonischen Grenze.

Im Laufe des Tages entscheiden wir uns dafür, unsere gesamte Zeit im Kosovo hier zu verbringen, statt kreuz und quer umher zu reisen. Denn was uns besonders an diesem Land interessiert, sind seine Menschen. Und die lernen wir in Prizren an jeder Straßenecke kennen.

Kaum einen Fuß haben wir auf den Gehweg gesetzt, schon werden wir freudestrahlend von einer Einheimischen im Kosovo willkommen geheißen. Und zwar auf Deutsch. Sie freut sich unglaublich, dass wir ihr Land bereisen und überhäuft uns mit Tipps rund um ihre Heimatstadt. Und sie weiß, wo es die beste Pizza in Prizren gibt. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und nehmen nach der Verabschiedung Kurs auf unser Mittagessen bei Mr. Pizza.

Auch hier ist man unglaublich euphorisch und interessiert daran, etwas über unsere Reise in den Kosovo zu hören. Mehr noch haben wir wirklich das Gefühl, auf ehrliches Interesse und kein profitorientiertes Umschmeicheln zu stoßen. Außerdem ist die Pizza wirklich verdammt lecker!

Doch irgendwann können auch wir nichts mehr essen und machen uns auf den Weg in unser Hostel. Für eine Woche mal ein richtiges Bett! Doch bald schon sehnen wir uns in unsere eigenen vier (Zelt-)Wände ohne schnarchende Mitbewohner zurück. Aber unsere Faszination mit dem Kosovo, kann uns so schnell keine noch so kurze Nacht vermiesen.

Die nächsten Tage verbringen wir damit, allein oder zu zweit die Stadt zu erkunden.

Prizren wird gemeinhin als die schönste Stadt des Kosovo beschrieben. Da es die einzige Stadt ist, die wir vom Land sehen, müssen wir das jetzt einfach mal glauben. Prizren ist ein kleiner Schmelztiegel der Kulturen: Albaner, Serben, Bosniaken, Türken und Roma leben hier. Vom 15. bis Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte die Stadt zum Osmanischen Reich. Wohin das Auge reicht, sehen wir daher Moscheen, aber auch orthodoxe Kirchen. Außerdem erhebt sich über die Stadt eine mittelalterliche Festung, die Flo zweimal erklimmt, während ich unsere Querfeldein-Geschichten ins Englische übersetze.

Schon wie in Bosnien und Herzegowina, finden wir überall Zeichen des Krieges. Zusätzlich dazu sehen wir an fast jeder Ecke Soldaten der KFOR (Kosovo Force), eine nach Beendigung des Kosovokrieges im Jahre 1999 aufgestellte multinationale militärische Formation unter der Leitung der NATO. Ursprünglich bestand sie aus circa 50.000 Soldaten aus über 40 Staaten, seit 2012 befinden sich nur noch 6.000 Soldaten im Land. Darunter 700 aus Deutschland. Sie sollen den Aufbau und Erhalt eines sicheren Umfelds im Kosovo gewährleisten.

Auf unseren Wegen durch Prizren werden wir oft angesprochen.

Meist sogar auf Deutsch, da viele während des Krieges einige Zeit in Deutschland verbracht haben. Wir reden über alles Mögliche. Warum wir hier sind, wie es uns gefällt, wie lange wir bleiben. Viele erzählen uns über ihr Leben und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Der Wunsch, (wieder) nach Deutschland zu gehen und eine Arbeit zu finden, ist bei vielen sehr präsent. Doch die Chancen auf eine Arbeitserlaubnis in Deutschland sind schlecht. Und das ist fatal. Denn viele Familien können schlichtweg kaum überleben, wenn nicht wenigstens einer von ihnen in „Europa“ (so nennen sie wohlhabendere europäische Staaten wie Deutschland) arbeitet und jeden Monat ein wenig Geld nach Hause schickt. Circa 45% der Menschen leben in Armut, haben nur etwa 1-1,50€ am Tag zur Verfügung. Knapp 70% der jungen Menschen im Kosovo sind arbeitslos. Viele sehen daher eine Auswanderung als einzige realistische Chance, um sich eine selbstbestimmte Existenz aufzubauen.

Uns machen diese täglichen Gespräche sehr nachdenklich.

Und besonders an eine Begegnung, werden wir in den folgenden Monaten immer wieder zurückdenken: Am Busbahnhof treffen wir Gursel. Er ist Busfahrer und wartet gerade bis seine Schicht in vier Stunden wieder losgeht. Jeden Tag fährt er zwischen Prizren und der Hauptstadt Priština hin und her. Er fragt, ob er uns ein wenig von seiner Stadt zeigen kann. Außerdem möchte er gern sein Deutsch üben. Zögerlich stimmen wir zu, denn ein wenig misstrauisch sind wir schon. Vielleicht, so denken wir, will er uns einfach ein wenig Geld abknöpfen.

Wir laufen fast drei Stunden lang durch Prizren. Lernen einiges über die Geschichte der Stadt und entdecken viele schöne Orte. Irgendwann beginnt Gursel über sein Leben zu sprechen. Über die Schwierigkeiten, trotz Vollzeitjobs seine Familie zu ernähren. Das die üblichen 200-300€ Monatslohn kaum ausreichen, um alle monatlichen Fixkosten zu bezahlen. Wie er für einen Hungerlohn in seiner „Freizeit“ Kilo um Kilo wilde Himbeeren sammelt, oder die Milch seiner Kuh verkauft, damit er seinen Kindern den Schulbus bezahlen kann. Wir reden über die zerstörerische Korruption im Land und den Frust, den vor allem die jungen Menschen hier haben.

Gursel ist besorgt um die Zukunft seiner Kinder.

Denn ob sie später einmal Arbeit finden, ist ungewiss. Vielleicht, so hofft er, können sie irgendwann ein Arbeitsvisum in Deutschland bekommen. Dann müsste er sich nicht mehr so sehr um sie sorgen.

Als wir zusammen einen Tee trinken gehen, weist Gursel all unsere Versuche ab, ihn einzuladen. Wir schauen uns betreten an. Längst hat sich unser anfängliches Misstrauen in Scham gewandelt. Wenigstens irgendetwas wollen wir ihm zurückgeben für die Zeit, die er sich genommen hat, uns seine Stadt zu zeigen. Doch unsere Pfefferminztees gehen auf seine Rechnung. Einen Euro kosten beide. Und bis zu diesem Zeitpunkt haben wir das Geschenk von zwei Tassen Tee wahrscheinlich noch nie so Wert geschätzt.

Unsere Begegnungen im Kosovo haben uns ein neues Verhältnis zu unserem eigenen Tagesbudgets gegeben.

Sie haben uns gezeigt wie viel so ein Euro eigentlich Wert sein kann. Für uns ist es ein Zehntel unseres Tagesbudgets. Wir versuchen ihn also nicht leichtfertig auszugeben. Aber es ist ein Zehntel eines Tagesbudgets, das wir uns selbst und völlig freiwillig gesetzt haben. Wir könnten es jederzeit erhöhen, sobald es nötig wird. Doch wie oft nutzen wir unser Geld oder unsere Zeit eigentlich dafür, anderen und nicht nur uns selbst eine Freude zu machen?

Es sind noch 5km bis zur mazedonischen Grenzkontrolle.

Sieben Tage haben wir im Kosovo verbracht. Krieg, Armut und Flüchtlinge haben wir mit diesem Land verbunden. Und tatsächlich waren es auch diese Themen, mit denen wir immer wieder konfrontiert wurden. Doch was wir vor allem aus dem Kosovo mitgenommen haben, ist das Lächeln und die Schönheit seiner Bewohner, die uns überall begleitet hat, sobald wir einen Fuß auf die Straße setzten. Bevor wir in den Kosovo gereist sind, wurden wir so manches Mal gewarnt, unsere Route zu überdenken. Immerhin wäre der Krieg noch nicht lange her und die Armut der Menschen würde das Reisen für uns wohlhabende Backpacker sicherlich gefährlich machen. Zum Glück haben wir hier auf unseren eigenen Kopf gehört und auf Prizrens Straßen einige der beeindruckendsten Gespräche dieser Reise geführt.

Besucht den Kosovo. Sprecht mit den Menschen. Geht auf die Straßen. Und seht selbst.

(Headerbild: John-Mark Smith – unsplash.com)