Zwischen Deutschland und Griechenland vergeht kaum eine Autofahrt in der sie nicht zur Sprache kommt. Sie bietet Grundlage für Diskussionen. Sie lässt uns zugleich Herzenswärme als auch charakterliche Abgründe sehen.

Unsere Route bringt Menschen zum Reden. Die Balkanroute. Die andere Richtung.

In den ersten Monaten unserer Reise berichten die Medien scheinbar pausenlos über die Flüchtlinge und ihren Weg nach Europa. Uns erreichen diese Bilder und Geschichten, sobald wir an einem Zeitungsstand vorüber gehen, auf unserem Tablet die Nachrichten verfolgen oder wir mit unseren Lieben daheim telefonieren.

Wir wissen, dass tausende Menschen in die andere Richtung gehen. Doch mit eigenen Augen sehen wir niemanden. Obwohl wir die gleiche Route wählen und womöglich dieselben Straßen und Grenzkontrollen passieren. Allgegenwärtig sind sie dennoch. Denn schon allein der Umstand, dass wir auf der Balkanroute Richtung Süden unterwegs sind, bringt unsere Gespräche mit den Menschen, die wir treffen, immer wieder auf den Krieg in Syrien.

Dabei treffen wir auf ein Kaleidoskop der Gefühle: Wut, Trauer, Mitgefühl, Unverständnis, Angst, Sorge.

2016-05-06_10-50-54Wir versuchen all dem Raum zu geben. Doch einfach zuzuhören ist nicht immer leicht. Aber eine Mauer aus Meinungen zu errichten, bringt keinem etwas. Die Stimmung ist angespannt. Doch die meisten haben selbst noch keinen Flüchtenden getroffen. Wie wir, wissen sie nur das, was ihnen die Medien berichten. Die Berichte von überfüllten Camps und Verzweiflung an den Grenzen, von Massen, Wellen, Flut. Und das lässt kaum jemanden in guter Stimmung zurück.

Und so passiert es uns einige Male, dass dieselben Menschen, die uns gerade mit offenen Armen in ihren Wagen, an ihren Esstisch oder in ihr Haus eingeladen haben, bei dem Thema Flüchtlinge plötzlich ihre Wärme in den Augen verlieren.

Wo eben noch Herzlichkeit war, hat sie auf einmal dem Misstrauen, der Sorge und der Angst Platz gemacht.

Das macht uns nachdenklich. Denn sind wir nicht alle zuallererst einmal Menschen, die nach einem Leben in Frieden und Gesundheit für uns und unsere Familien streben? Haben wir nicht ähnliche Wünsche und Hoffnungen und ein Recht auf Freiheit? Uns wird auf dieser Reise so viel Freundlichkeit zu Teil, doch was auf dem Weg in die andere Richtung geschieht, davon haben wir keine Ahnung.

Die eine und die andere Richtung. Von Leipzig bis Athen kommen sie uns vor wie zwei parallele Welten. Bis beide auf der kleinen griechischen Insel Chios, nur wenige Seemeilen von der türkischen Küste entfernt, schließlich aufeinander treffen.

Am Hafen ist ein großes weißes Zelt aufgebaut. „Welcome“ steht über dem Eingang.

Wir sehen Familien im Park essen, ihre Wäsche weht zwischen den Bäumen im Wind. Sie warten auf ein weiteres Boot aufs Festland. Wir warten auf unsere Fähre nach Çeşme. Zwei Tage wollen wir auf der Insel verbringen. Doch nun wissen wir nicht so recht wohin.

Wir fragen uns, warum wir uns nicht einfach auch mit auf die Wiese setzen. Wollen wir nicht stören? Nicht anecken? Haben wir Angst vor Zurückweisung? Wahrscheinlich können wir einfach unsere Komfortzone nicht verlassen. Und gerade dass wir über all dies nachdenken müssen zeigt uns, dass sie auch in unseren Köpfen existiert: die Grenze zwischen uns und „ihnen“. Und so bleiben wir stumm und gehen enttäuscht von uns selbst weiter.

Unsere unbeholfenen Schritte führen uns zum Strand.

Hinter Bergen von alten Rettungswesten kochen wir unser Mittagessen. Später laufen wir vorbei an vergessenem Verpackungsmüll und türkischen Wasserflaschen, verstreuten Kleidungsstücken und einzelnen Schuhen. Im Sand finden wir eine iranische Münze.

Worte kommen uns auch hier nur wenige über die Lippen. Die Stille füllt jeder für sich mit eigenen Gedanken. Wie sah es hier vor einigen Wochen aus? Oder vor einigen Tagen? Wer ist hier wann angekommen? Und welche Erlebnisse trug ein jeder mit sich? Inmitten unbeantworteter Fragen, schlagen wir unser Zelt auf. Es scheint fast, als hätte jemand hier kurz auf eine PAUSE Taste gedrückt, bevor sich die Strände wieder mit neuen Hoffnungen füllen.

Als wir am Morgen am Hafen unser Fährticket kaufen, legt gerade ein neues Boot an. Es sind vielleicht 30 junge Frauen und Männer, die ihrem Wunsch nach Frieden ein kleines Stückchen näher rücken. Und doch ist es letztlich nur ein weiterer Schritt in die Ungewissheit. Wir schultern unsere Rucksäcke und laufen ihnen entgegen. Wieder einmal unterwegs in die andere Richtung. Wir hoffen, dass auch sie die Insel bald verlassen können und ihnen die Menschen in den Ländern, die wir in den letzten Monaten durchquert haben, mit ebenso viel Herzlichkeit und ohne Angst begegnen wie uns. Und, dass sich nicht alle so unbeholfen verhalten wie wir.

Heute, mit Monaten des Abstands betrachtet, sind wir uns sicher, dass wir nun anders reagieren würden. Vor allem würden wir nicht noch einmal mit solchen Gefühlen im Bauch einfach abreisen, sondern solange bleiben, bis sich in der Stille wieder Worte formen können. Dankbar sind wir trotzdem für diese zwei Tage, denn die kurze Zeit auf Chios hat uns gezeigt, dass es noch einige Mauern in uns selbst gibt, die wir eine nach der anderen auf diesem Weg einreißen werden. Schritt für Schritt.